- Artikel-Nr.: 978-3-7365-0429-5
Geht es heute um Kirche und Glaube, stehen häufig nicht die Inhalte im Vordergrund oder der gelebte, alltägliche Glaube, sondern allermeist die Strukturen. Und diese Strukturen sind auch noch immer der Grund, warum Menschen in der Kirche in „Profis“ und „Laien“ eingeteilt werden. Den Laien wird dann häufig im gleichen Atemzug die Kompetenz abgesprochen, mündig den eigene Glauben zu leben. Christliche Spiritualität ist daher nicht selten „von oben“ bestimmt und vorgegeben. Ein christliches Leben zu führen beschränkt sich in diesem Sinn dann darauf, Inhalte gläubig nachzuvollziehen. Mystische Spiritualität dagegen hat das Ziel, Menschen selbstbewusst und mündig zu machen. Sie spricht uns zu, dass Gott in jedem von uns wohnt und im Alltag erfahrbar ist, ohne dass dazu die Vermittlung durch einen „professionellen Stellvertreter“ oder bestimmte vorgegebene Rituale notwendig wären. Dies zu belegen und auszuführen ist das Ziel dieses Buches. Dabei benennt und erklärt der Autor Johannes Schleicher zunächst ausgehend von der Bibel einige mystische Themen. Im zweiten Schritt vertieft er dies am Beispiel einiger wichtiger Mystiker und ihrer Kernaussagen.
Dieses Buch wurde im Juni 2022 zum "Religiösen Buch des Monats" ausgezeichnet.
Einladung zu einer mystischen Spiritualität der Beziehung
Im ersten Teil des Buches blickt der Autor ausführlich auf Altes und Neues Testament. Von hier aus entwickelt er gut verständlich seine mystische Spiritualität, „die in dem Bewusstsein lebt, dass Gott selbstverständlich da ist“. Bibelworte und Mystikerzitate bezeugen einen menschenfreundlichen Gott, der zu seiner eigenen Freude im Inneren des Menschen wohnt: „Der Mensch ist der Himmel Gottes!“ Das ganze Buch lebt von einer warm vorgetragenen „Theologie der Beziehung“, mit der ich sehr gut in Resonanz gehen konnte. Angefangen vom Gottesnamen im Alten Testament, der nach Johannes Schleicher „Ich bin für euch da“ meint, bis hin zum „Logos“-Begriff im Prolog des Johannesevangeliums, den er nicht mit „Wort“, sondern mit Beziehung übersetzt: „Im Anfang war Beziehung und die Beziehung war bei Gott und Gott war die Beziehung.“ Gott ist unverbrüchlich die Urbeziehung im Menschen und durch Jesus Christus wird sie vollständig sichtbar. Eine Gewissheit, die die MystikerInnen durch die Jahrhunderte bezeugen und vorleben. Ganz im Gegensatz zu den meisten „amtlich geweihten Glaubenswächtern“, die z. T. noch mit angstmachenden Gottesbildern operieren: „Wir bewegen uns hier am Rande des spirituellen Missbrauchs ganzer Gemeinden.“ Schleicher fordert hier einen grundlegenden Prozess des Umdenkens und kommt auch an manch anderer Stelle zu kritischen Anmerkungen, bei denen aber auch der Humor nicht zu kurz kommt. Ebenso wenig der Transfer hinein in den konkreten Alltag. Dafür sorgen die eingestreuten Übungsvorschläge und Fragen zur Reflexion.
Der zweite Teil des Buches stellt fünfzehn ausgewählte Mystikerinnen und Mystiker vor. Für mich sind das überaus lebendig geschriebene biografische Skizzen, die der jeweiligen Persönlichkeit und ihrer Mystik sehr gut gerecht werden. Mehr noch, man bekommt zugleich fünfzehn mystisch überaus erfahrene RatgeberInnen für den eigenen spirituellen Weg zur Seite gestellt. Mit Hildegard von Bingen, die das Menschenherz als Spiegel Gottes sah, beginnt der Einstieg in die mystische Runde. Sie plädiert für den Weg nach Innen als Voraussetzung für mehr Erkenntnis auch im Außen: „Du verstehst so wenig, was um dich herum geschieht, weil du so wenig verstehst von dem, was in dir geschieht.“ Juliana von Norwich ermutigt dazu, auf die eigene tiefste Sehnsucht zu hören, denn darin „hören wir das Verlangen Gottes“. Zu Wort kommt auch Madeleine Delbrêl, die sich wünschte, dass wir uns in Gott „gesund tanzen“. Oder Teresa von Avila: „Wer in die Meditation eintaucht, taucht beim Nächsten wieder auf.“ Immer hat Johannes Schleicher solch klug ausgewählte Zitate eingestreut, mit denen man sich beim Lesen sofort anfreunden und sie auch in die eigene Lebenspraxis einfügen kann. Etwa folgender Satz von Roger Schutz, dem Gründer von Taizé: „Lebendiger Gott, du versenkst unsere Vergangenheit im Herzen Christi und hast für unsere Zukunft schon gesorgt.“ Johannes Schleicher nutzt dieses Wort für sich als Abendgebet, es sorgt für eine friedliche Nacht. Weiteren Zeugen einer Mystik für heute ist er mehrfach persönlich begegnet: wie Roger Schutz, Dorothee Sölle, Ernesto Cardenal, David Steindl-Rast. Wovon er bescheiden erzählt. Mein Fazit: Wer auf solider biblischer Basis den „mystischen Herzschlag“ des Christentums als alltagstaugliche und „zeitgemäße Lebenshaltung“ für sich entdecken will, ist bei Johannes Schleicher als profundem Theologen und freundlichem Wegweiser bestens aufgehoben.
Ein befreiendes Buch!
Johannes Schleichers sehr persönliches Buch ist in einer Zeit, in der es im strukturellen Gebälk der Amtskirchen sehr laut knirscht, ein in meinen Augen wichtiges Buch. Es zeigt auf fundierter theologischer Grundlage in allgemeinverständlicher Sprache, dass Gott in jedem Menschen wohnt und Gottes bei-uns-Sein nicht von Amt oder (Kirchen-)Raum abhängig ist. Der Autor schreibt nicht klug vor, wie wir Leser zu denken haben, sondern zeigt einladende Möglichkeiten auf, als mündiger Christ in einem sehr persönliches Verhältnis zum liebenden Gott zu leben – auch innerhalb der heutigen Kirchen. Eine Auswahl von Mystikern verschiedener Zeit und Konfession wird im historischen Kontext vorgestellt und ihre Botschaften meisterhaft lebendig gemacht. Gern hätte ich noch viel weiter gelesen und hoffe auf einen zweiten Band. Ein befreiendes Buch!
Ganz im Sinne der Mystik und der Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung ist auch die umweltfreundliche Gestaltung des Buchs durch den Viertürme-Verlag und rundet so den positiven Gesamteindruck ab.
Maria Sassin
Zacharias Heyes
Der kleine Mönch und die Sache mit der Stille